musikschulwelt sprach mit dem Songwriter, Produzenten und Kopf von Orange Blue
Herzblut tropft aus jedem seiner Töne – und das kann auch schon einmal schmerzhaft sein. Der Sohn eines Handball-Nationalspielers hat bereits 2000 mit seiner Formation Orange Blue die Charts aufgemischt und platzierte damals mit »She’s Got That Light« einen Megahit, der mehr als 400.000-mal über die Plattentheke ging. Heute ist Vince Bahrdt als Komponist und Produzent ein viel gefragter Mann: So schrieb er sowohl Songs für die letzten Alben von Lotto King Karl als auch für den Altmeister Udo Lindenberg: Dessen »Wenn du durchhängst«, »Woddy Woddy Wodka« oder »Der Astronaut muss weiter« stammen aus der Feder des gebürtigen Hamburgers.
Nun präsentiert Vince nach »Mordballaden« (2007) sein zweites Soloalbum. »Tief« lautet dessen Titel, und der ist hier auch Programm: tief emotionale deutsche Rockmusik mit tiefgründigen Texten – ein tief beeindruckender Wurf eines in der persönlichen Begegnung tief stapelnden Musikprofis.
musikschulwelt: Auch Sie haben ja mal klein angefangen – wie klein?
Zu meinem 7. Geburtstag hab ich mit Privatunterricht an den Tasten begonnen. Natürlich der klassische Weg: Notenlehre parallel zu den ersten Fingerübungen, und dann – wie sollte es anders sein – erste kleine Weihnachtslieder. Ich hab mir das gewünscht, seit ich denken konnte; meine Großmutter hatte einen (für mich damals) riesigen Flügel im Wohnzimmer stehen – der hat mich von Anbeginn magisch angezogen. Mit etwa Sechzehn wurde ich dann auf der Suche nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten fündig: Das Schlagzeug wurde die Nummer eins in meinem Leben, ich beendete nach zehn Jahren meinen privaten Klavierunterricht und begann gleichzeitig erste Popsongs auf dem Piano zu spielen, zu improvisieren und die ersten Songs zu schreiben …
musikschulwelt: … die Sie dann auch gleich »produzierten« …
Mit 17 hatte ich den ersten Popsong auf Kassette: Ich habe im Ping-Pong-Verfahren Schlagzeug, diverse Percussion-Instrumente, Klavier, Flöte und Mundharmonika aufgenommen – so fing alles an.
Zwischen Universität und Filmbranche
musikschulwelt: Trotzdem haben Sie nach der Schule nicht gleich den Schritt ins Musikgeschäft getan …
Ich habe ein recht gutes Abitur gemacht, was mir alle Möglichkeiten in Sachen Berufswahl offenließ. Unglücklicherweise hatte ich unbeschreiblich viele Interessen, ich studierte sogar ein Semester Physik und spielte mit dem Gedanken, Elektrotechnik an der TU Harburg zu studieren. In meinem Leben mit der Musik Geld zu verdienen, war bis Ende zwanzig tatsächlich niemals mein Ziel, ich war stattdessen auf der ewigen Suche und arbeitete sieben Jahre in der Filmbranche. Das Studium der Angewandten Kulturwissenschaften war eine interessante Zeit – ich wusste jedenfalls am Ende des Studiums, was ich nicht machen wollte.
musikschulwelt: Sie haben Klavier und Schlagzeug erlernt. Im Nachhinein eine gute Wahl?
Ich hätte gerne Violine gelernt, hab auch eine zuhause, aber das wollen Sie nicht wirklich hören … Gitarre übrigens hat mich z.B. nie interessiert. Das Klavier ist ein ausgesprochen dankbares Instrument: Man kann keinen Viertelton danebenliegen, durch synthetische Sounds jedes Instrument imitieren (natürlich nur bis zu einem gewissen Punkt) und diese Sounds zum Songwriting benutzen. Die Entwicklung der Synthesizer hab ich ja von Kindesbeinen an miterlebt, von den ersten analogen Geräten bis zu den ersten Samplern – eine großartige Entwicklung.
Heute wird den Menschen leider mit jedem Rechner ein Musikprogramm mitgeliefert, das für sie die kreativen Entscheidungen fällt. Das ist ein Problem, aber natürlich nicht zu ändern. Außerdem gibt es nach wie vor keinen einzigen Sampling-Sound, der einen echten Flügel oder ein echtes Orchester imitieren kann. Das Gefühl, an einem echten Flügel zu spielen, ist einzigartig und unbeschreiblich inspirierend. Und jedes Mal, wenn ich meine Streicherarrangements von einem Orchester spielen lasse, passieren klangliche Dinge, mit denen ich nie gerechnet hätte – ein Genuss!
Ich bin wohl eher ein Moll-Typ
musikschulwelt: Ihre Musik weist zahlreiche Elemente der E-Musik auf. Welche Rolle spielt(e) Klassik für Sie?
Als Kind hatte ich ein favorisiertes Tape: die »Brandenburgischen Konzerte« Nr. 2, 4 & 6 von Johann Sebastian Bach. Dieses Werk hat mich über Jahre geprägt (und war ebenso oft im Kassettendeck wie etwa »Die drei ???«), daneben Bachs Orchestersuiten. Dazu stießen mit der Zeit einzelne Werke anderer fantastischer Komponisten, wie natürlich ein Mozart (Reqiem), Brahms (3. Satz der Sinfonie Nr. 3) oder auch ein Samuel Barber (»Adagio for Strings«). Diese großen Namen haben aber auch Kompositionen erschaffen, mit denen ich – und wahrscheinlich auch andere – nicht so viel anfangen kann.
Mir hat rückblickend betrachtet im Musikunterricht in der Schule immer der gesellschaftsgeschichtliche Aspekt im Leben dieser großen Komponisten gefehlt – erst im Laufe des Studiums hab ich mich mit Literatur, die damalige Zeit betreffend, beschäftigt. Ich denke, das ist bis heute ein großes Problem in der pädagogischen Positionierung des Stoffs: Klassische Musik wirkt leider für viele Menschen entweder zu abstrakt oder zu langweilig. Unglaublich, wenn Sie mich fragen …
Tatsächlich bin ich wohl eher ein Moll-Typ … und dummerweise gibt es dafür in der Pop-Landschaft nur ein kleines Feld, aber es reicht. Ich liebe interessante Harmoniewendungen, werde gerne überrascht und versuche mich des Vier-Harmonien-Radio-Drecks weitestgehend zu entziehen. Natürlich schaffe ich das nicht konsequent, aber doch häufig.
Songs schreiben ist wie Tagebuch schreiben
musikschulwelt: Wie entsteht denn bei Vince Bahrdt konkret ein neuer Song?
Meistens arbeite ich erst musikalisch, dann textlich, und dabei zu 99 % am Klavier. Es gab aber auch schon Songs, die aus einer Textidee entstanden oder ihre Geburt durch Drumloops am Rechner erlebten, hier sprechen wir aber von der wirklichen Ausnahme. Eine Menge meiner Songs reflektieren unsere heutige Zeit oder persönliche Erfahrungen. Und das ist das Wundervolle am Musikerleben: Wenn man nicht verkrampft auf Charterfolge aus ist, kann man erschaffen, was man möchte. Songs schreiben ist wie Tagebuch schreiben. Ich mache das nur verschlüsselter …
Ich mache Musik weder um in der Öffentlichkeit zu stehen, noch für die Öffentlichkeit. Ich mache Musik für mich selbst, weil ich gar nicht anders kann, weil ich genieße und weil ich wohl einer der glücklichsten Menschen auf diesem Planeten (einschließlich anderer Sonnensysteme) bin. Musik machen ist alles für mich.
Musik machen ist alles für mich
musikschulwelt: Sie waren mit Orange Blue an der Spitze der Charts, haben den Hype des Business also am eigenen Leib miterlebt. Sind diese Erfahrungen erstrebenswert oder vielleicht sogar verzichtbar?
Absolut erstrebenswert! Das war ein toller Einstieg in die Musiklandschaft. Hätte ich mir nie erträumen lassen und hat mein ganzes Leben ausgerichtet. Zum Glück war ich mit 29 Jahren bei meinem ersten Charterfolg schon so reif, dass ich danach konsequent meinen eigenen Weg weitergegangen bin und von diesen komischen Gestalten, die in der Musiklandschaft umherirren und wahnsinnig viel Blödsinn erzählen, nicht ge- bzw. verformt werden konnte.
musikschulwelt: Zahlreiche Orange Blue-Songs, vor allem aber Ihre Soloalben sind von Melancholie quasi durchtränkt. Ist sie das Lebenselixier Ihrer Kunst?
Ja, und Melancholie hat für mich nichts Negatives. Ich liebe es, mir abends ein Glas Wein einzuschenken, mich in mein Studio oder vor meinen Rechner zu hocken und über Kopfhörer, völlig abgeschottet von der Außenwelt, intensiv Musik zu hören. Da tauche ich dann ein, leide auch manchmal so ein bisschen, bin aber der glücklichste Mensch auf Erden und genieße … Verbitterung ist für mich tatsächlich ein Fremdwort. Als Inspiration kann ich vor allem eine Zeit nennen: die der Romantik. Dunkelheit und Geheimbünde ziehen mich wohl magisch an.
musikschulwelt: Welche Songs aus Ihrem bisherigen Schaffen sind Ihre persönlichen Favorits?
Zurzeit »Habsucht« (Interpret: Vince) für seinen Text, »I’ve foreseen this day« (Interpret: Orange Blue) für sein Arrangement und »Echt« (Interpret: Vince) für sein Gefühl. Meine musikalischen Favoriten verändern sich allerdings mindestens wöchentlich.
[YouTube-Anspieltipps der Redaktion: »Habsucht« und »Tief«, der Titelsong des Albums]Aus tiefstem Herzen mein ehrlicher Tipp: einfach machen!
musikschulwelt: Wie lauten Ihre grundlegenden Tipps für Jugendliche, die erste Gehversuche in Sachen Komposition/Songwriting machen?
Einfach machen! Leider wirken die diversen Casting-Shows komplett kontraproduktiv in Sachen Erwartungshaltung. Plötzlich wird Musikmachen mit Erfolg gleichgesetzt, es gibt allen Ernstes eine Jury, die über ein sogenanntes »Weiterkommen« entscheidet, und aus Musik wird ein Wettbewerb. Na, was soll’s. Es ist, wie es ist. Aber Musik wirklich zu machen, in der Schule eine Band zu gründen, am Klavier oder an der Gitarre zu sitzen und sich etwas auszudenken, selbiges dann aufzunehmen und sich danach anzuhören, das ist das Allergrößte.
Musik ist die gesündeste Droge, die ich kenne
Die Kreativität wächst – mit jedem Song, den man erschafft. Insofern ist mein aus tiefstem Herzen ehrlicher Tipp: einfach machen. Der Weg formt sich von selber. Ich habe mir während meines Studiums den Wecker um 6 Uhr gestellt, damit ich vor den Vorlesungen weiter an meinen Homerecording-Produktionen basteln konnte. So haben mich dann auch diverse Vorlesungssäle und Dozenten zunehmend seltener zu Gesicht bekommen. Musik machen ist halt eine Droge. Und übrigens die gesündeste, die ich kenne.
Ein Beitrag aus der O-Ton-Reihe »Auch ich war Musikschüler …« von musikschulwelt.de
Auch die Großen haben einmal klein angefangen. Ob am Instrument oder im Chor: Es sind oft unvergessliche Erinnerungen, die sich damit verbinden. musikschulwelt schaut gemeinsam mit Stars aus und jenseits der Musikszene auf deren ersten Gehversuche in der Musik.