Interview zur deutschen Erstaufführung von »Parade« durch das Freie Musical-Ensemble Münster e.V.
Das Freie Musical-Ensemble Münster e.V. (FME) bringt seit vielen Jahren mit ehrenamtlichen Laien-Darstellern und -Musikern einzigartige und hochambitionierte Musicalproduktionen auf die Bühne. 2017 steht nun die deutsche Erstaufführung des mit zwei »Tony Awards« ausgezeichneten Broadway-Erfolgs »Parade« (Premiere 10.11.) an. Mit den beiden Hauptverantwortlichen, dem künstlerischen Gesamtleiter Ingo Budweg (I.B.) und der Regisseurin Canan Toksoy (C.T.), spricht musikschulwelt über die Realisation eines solchen Projekts jenseits des professionellen Musiktheaterbetriebs.
musikschulwelt: Was ist es, das Sie antreibt, solch große Musiktheaterprojekte mit Laien anzugehen?
C.T.: Ohne Enthusiasmus und Herzblut eines jeden Einzelnen wäre es nicht möglich, ein solches Projekt auf die Beine zu stellen. Gerade die Tatsache, dass es nicht ein Job ist, mit dem man seine Brötchen verdienen muss, sondern etwas, bei dem man seine Leidenschaft ausleben kann, macht es zu etwas Besonderem. Tatsächlich verbringen wir einen Großteil der Freizeit, Wochenenden, Abenden und Feiertagen mit Probenzeit.
I.B.: Man wächst immer an seinen Aufgaben und Herausforderungen. Nach 18 Jahren ist auch schon ein großer Erfahrungsschatz vorhanden, aus dem man schöpfen kann. Selbstverständlich ist gerade in diesem Jahr – durch den hohen Schwierigkeitsgrad der Musik – eine hohe Probendisziplin erforderlich. Aber wir legen zugleich auch immer sehr großen Wert darauf, dass der Spaß am Projekt nicht zu kurz kommt.
musikschulwelt: Woher kommen die Mitwirkenden?
C.T.: Das FME setzt sich aus Mitgliedern verschiedenster Sparten zusammen: Berufstätige wie Lehrer, Ärzte, Juristen, Krankenpfleger, Studenten und auch Rentner. Letztendlich kann bei uns jeder mitmachen, der Spaß an und Begeisterung für Musik, Schauspiel und Tanz hat. Wir zeichnen uns dadurch aus, dass jeder sein besonderes Talent in das Projekt mitbringt und sich dort verwirklichen kann. Gerade das ist unbezahlbar und lockt jedes Jahr auch immer wieder neue Mitglieder an.
I.B.: Niemand erhält eine Gage! Die Leute kommen zum FME, um gemeinsam ihrer Leidenschaft – der Musik – nachzugehen und auf der Bühne eine bewegende Geschichte zu erzählen. Hier sind alle mit Herzblut dabei, und dies entspricht seit jeher unserer Philosophie.
Unsere Mitglieder sind keine Profis, sondern alle Teilnehmer engagieren sich in ihrer Freizeit ehrenamtlich. Gleichwohl sind wir darum bemüht, stets auf einem sehr hohen Niveau zu arbeiten, und investieren dafür neben den »normalen« Chorproben auch viel Zeit in Stimmbildungs- und Schauspielübungen sowie in Fitnesstraining der Teilnehmer.
Jeder ist hier gleichermaßen wichtig – vom Studenten bis zum Rentner
musikschulwelt: Dann liegt ein Schwerpunkt bei Ihrer Musicalauswahl auf großen Ensemblenummern?
I.B.: Das Herzstück unseres Ensembles ist immer der Chor. Zwar gibt es natürlich in jedem Stück Hauptrollen, die solistisch besetzt werden, aber die Philosophie unseres Ensembles ist eigentlich, dass es ein großes Miteinander sein soll, in dem jeder Teilnehmer gleichermaßen wichtig ist. Daher kommen für uns nur solche Musical-Projekte in Betracht, die viele Chor-Nummern beinhalten.
musikschulwelt: In Sachen Stückauswahl erweisen Sie sich zugleich aber auch regelmäßig als echte Schatzgräber. Hierzulande größtenteils noch unbekannte, aber international sehr erfolgreiche Titel bringen Sie nach Deutschland. Warum fiel die Wahl nun auf »Parade«?
C.T.: Wir sind bereits 2014 auf »Parade« aufmerksam geworden. Zum einen besticht dieses Stück durch große Ensemblenummern, die man immer weniger im Musicalgenre findet. Hier können wir unseren großen Chor sehr gut einsetzen.
I.B.: Zum anderen hat uns die Tatsache fasziniert, dass die Inhalte des Stückes – Vorurteile, Sensationslust und Antisemitismus – eigentlich niemals an Aktualität verlieren. Auch heute erlebt man Menschen, die von Vorurteilen eingenommen sind und Dinge oder sogar Teile der Bevölkerung ablehnen, nur weil sie ihnen fremd sind. (Zum Inhalt hier mehr).
Bei unserer letztjährigen Produktion »Imagine This« waren die meisten Darsteller auf der Bühne Opfer des Holocausts; in diesem Jahr werden sie zu Tätern. Das Ensemble stellt die Bevölkerung der amerikanischen Südstaaten dar, die aufgrund ihrer Vorurteile dazu beitragen, dass der jüdische Fabrikbesitzer Leo Frank – obwohl er unschuldig war – die Todesstrafe erhält.
Fake News und Sensationsberichterstattung – zeitlose Problematiken mit extremen Folgen
musikschulwelt: Also zugleich auch ein sehr aktuelles gesellschaftspolitisches Thema …
C.T.: Ja. Leider finden wir momentan in einem großen Teil unserer Erde einen gewissen »Rechtsruck«, sicherlich ähnliche Energien wie Antisemitismus und Rassenhass damals. Insbesondere die Vorurteile, die durch Medien in Form von Sensationsberichterstattung geschürt werden, sind genauso aktuell wie damals.
musikschulwelt: Die Bühnengeschichte spielt ja im Amerika der 1910er Jahre. Was darf der Zuhörer da musikstilistisch erwarten?
C.T.: Den Besucher erwarten große Orchesternummern, durchgängig symphonisch besetzt. Außerdem ist die Musik reich an Dixie-Klängen und Einflüssen aus dem Ragtime- und Bigband-Genre.
I.B.: Das Besondere ist in jedem Fall, dass das Musical musikalisch sehr facettenreich und vor allen Dingen auch anspruchsvoll ist. Sowohl das Orchester als auch der Chor werden durch teilweise sechs- bis achtstimmige Sätze herausgefordert. Häufig laufen mehrere Melodien parallel übereinander und es erfordert eine enorme Konzentration, sich auf seine eigene Stimme/Melodie zu konzentrieren.
Achtstimmige Herausforderungen für die Choristen
musikschulwelt: Sie haben für die Münsteraner Inszenierung auch das Libretto erstmals ins Deutsche übertragen. Bekanntermaßen eine große künstlerische wie auch aufführungspraktische Herausforderung …
I.B.: Eine große Schwierigkeit besteht vor allem darin, die Texte sinngemäß zu übersetzen, ohne dass die Botschaft verloren geht. Dies ist bei Sprechtexten noch einfacher als bei Gesangstexten. Die Gesangstexte müssen schließlich auf eine bestimmte Melodie passen. Die englische Sprache ist wesentlich einsilbiger, hat also kürzere Worte als die deutsche Sprache. Hier ist es häufig eine Herausforderung, eine adäquate Übersetzung zu finden. Die Prosodie der Sprache soll erhalten bleiben und die Texte müssen für die Sänger auch noch angenehm zu singen sein. Zudem gibt es manche Redewendungen im Englischen, die nur schwierig ins Deutsche übertragen werden können.
musikschulwelt: Wie viele Mitwirkende sind 2017 in den zwölf Aufführungen von »Parade« zu erleben?
In diesem Jahr stehen 58 Sänger und Darsteller auf der Bühne; unser Orchester besteht aus 50 Musikern. Des Weiteren haben wir auch im Hintergrund noch zahlreiche helfenden Hände: unsere Choreographin beispielsweise oder die Visagisten sowie das Team für Beleuchtung und Ton. Insgesamt wird unser Projekt von rund 130 Leuten gestemmt, die aus den unterschiedlichsten Lebensbereichen und Berufen kommen.
Für musikalische Grenzgänger jeden Alters
Eigentlich nehmen wir nur Teilnehmer in das Ensemble auf, die mindestens 18 Jahre alt sind. Je nach Stück kommt es aber vor, dass ausnahmsweise auch jüngere Darsteller dabei sind. In diesem Jahr ist unser jüngstes Ensemblemitglied erst 16 Jahre alt. Nach oben gibt es im Grunde keine Grenzen, aber der Großteil der Darsteller ist zwischen 20 und 40 Jahre alt.
musikschulwelt: Wie gehen Sie damit um, wenn bei den Mitwirkenden die Grenzen des musikalisch Möglichen erreicht scheinen?
C.T.: Sicherlich brauchen wir alle mehr Probenzeit als ein Profi-Ensemble, aber wozu hat man Grenzen? Um sie zu überschreiten! Und wenn man noch so lange proben muss.
Ein Beitrag aus der O-Ton-Reihe »Musizieren als Erwachsenen-Hobby« von musikschulwelt.de. Die Fragen stellte Alexander Reischert.
Musikmachen in der Freizeit ist beileibe kein exklusives Hobby für Kinder und Jugendliche. Den Trend zum verstärkten Erwachsenenmusizieren haben längst auch städtische Musikschulen und andere Anbieter erkannt. musikschulwelt stellt in loser Folge Personen vor, bei denen das aktive Musizieren als Hobby neben ihrem Berufsalltag eine nicht zu überhörende Rolle spielt. Manch einer bewegt sich dabei sogar auf semiprofessionellem Niveau, alle jedoch mit ungebremster Leidenschaft.
Informationen zu den Aufführungen von »Parade« sowie zu Inhalt und Ausführenden unter: www.muenster.org