Üben heißt in Seelenlandschaften einfühlen

ROTH_Ausschnitt musikschulwelt spricht mit Linus Roth über seine musikalischen Anfänge, die von ihm bespielte historische Violine »Dancla«, den wiederentdeckten Komponisten Mieczyslaw Weinberg und einen heimlichen Wunsch …

Von der Zeitung »Die Welt« wurde er bereits zum »Götterliebling« erklärt: Linus Roth, Jahrgang 1977, ist einer der herausragenden deutschen Geiger unserer Tage. Der ECHO Klassik-Preisträger lehrt seit 2012 als Professor für Violine am Leopold-Mozart-Zentrum der Universität Augsburg. Zugleich wird er als Solist im In- und Ausland lautstark gefeiert: Er sei ein wahrer »Teufelsgeiger« von außergewöhnlicher künstlerischer Reife bereits in jungen Jahren – und damit auf dem besten Weg zu einer einzigartigen Karriere. Angefangen hatte alles zu Beginn der Grundschulzeit …

musikschulwelt: In welchem Alter haben Sie sich in das Geigenspiel verliebt?

Schon als 6-jähriges Kind hat mich die Geige fasziniert, damals fand ich es einfach ein spannendes Hobby, das ich von Anfang an mit großem Ernst verfolgt habe. Daraus ist eine unglaublich enge Verbindung zu diesem Instrument entstanden, es ist meine Stimme, mit der ich zu meinem Publikum sprechen und mich am besten ausdrücken kann.

musikschulwelt: Und als Teenager ist Ihre Begeisterung für das Musizieren nicht abgekühlt?

Ich habe es glücklicherweise immer als etwas besonders Tolles angesehen, Geiger zu sein – auch schon als Kind und Jugendlicher. Das hatte auch damit zu tun, dass meine Eltern immer dafür gesorgt haben, dass ich andere Musiker in meinem Alter um mich hatte. Ich denke, dies und die Wahl des richtigen Lehrers sind die Hauptgründe, warum ich keinen »Durchhänger« in der Pubertät hatte. Außerdem entschied ich mich schon vor der Pubertät fest dafür, Geiger zu werden.

Meine Eltern haben immer dafür gesorgt, dass ich andere Musiker in meinem Alter um mich hatte …

Zwischen zwölf und fünfzehn habe ich viele Wochenenden bei meinem damaligen Lehrer Prof. Nicolas Chumachenco verbracht. Dessen Frau unterrichtete damals den Cellisten Christian Poltéra, und ich habe mich immer sehr auf diese Wochenenden mit viel gemeinsamer Kammermusik gefreut.

musikschulwelt: Was war denn Ihr Wunschtraum als Junge: eine Anstellung im Orchester oder gleich eine Solistenkarriere?

Tatsächlich wusste ich bereits mit 10 Jahren, dass ich Solist werden wollte. Ich hatte kein Lampenfieber vor Auftritten, und so hat es sich mit zunehmendem Alter und den ersten Erfolgen herauskristallisiert, dass ich eine Solokarriere anstreben möchte. Das war dann auch der Grund, bereits mit knapp 16 Jahren mein Studium bei Prof. Zakhar Bron zu beginnen.

musikschulwelt: Sind für einen Violinisten am Anfang der Ausbildung (bzw. Karriere) die zahlreichen großen Virtuosennamen des Gestern und Heute eher Einschüchterung oder Motivation?

Für mich waren die großen Geiger unserer oder aus vergangener Zeit vielmehr immer eine große Inspiration, deren Aufnahmen mich seit meiner Kindheit begleitet haben. Ich lerne immer unendlich viel dabei, wenn ich anderen zuhöre, und das stand für mich immer im Vordergrund. Jascha Heifetz, David Oistrach und Henryk Szeryng sind drei ganz unterschiedliche Geiger, die ich gleichermaßen sehr bewundere.

Linus Roth300 Jahre Musikgeschichte unter dem Kinn

musikschulwelt: Populäre Namen und insgesamt mehr als drei Jahrhunderte Musikgeschichte verbinden sich auch mit dem Instrument, das Sie spielen – die Stradivari »Dancla« aus dem Jahre 1703. Erzählt sie Ihnen manchmal aus ihrer reichen Vergangenheit?

Ja, ganz leise flüstert sie mir manchmal etwas ins linke Ohr … Der Lebenslauf des Instruments ist natürlich sehr beeindruckend, wenn man bedenkt, dass der französische Violinprofessor Charles Dancla (1817-1907) darauf wohl seine Etüden komponiert hat und sie auch einige Jahre im Besitz von Nathan Milstein war. Nun bin ich der neue »Lebensabschnittspartner« dieses Instruments – und es ist eine große Ehre, darauf spielen zu dürfen.
Sie ist mein absolutes Trauminstrument. Ich hatte das große Glück, die Geige auszusuchen, und erst dann hat sie die L-Bank Baden-Württemberg gekauft und mir zur Verfügung gestellt. Ich habe lange gesucht, und bei der »Dancla« wusste ich schon nach ein paar Noten: Das ist die Richtige für mich!

Über die individuelle Erarbeitung zur gemeinsamen Interpretation

musikschulwelt: Wenn Sie heute ein Werk selbst einstudieren, wie gehen Sie da konkret vor? Welche Rollen spielen dabei die Komponistenbiografie, bereits vorliegende Werkanalysen oder fremde Einspielungen in der Erarbeitung?

Ich lerne den Violinpart, schaue mir aber gleichzeitig schon die Partitur an. Zu wissen, wie der Komponist gelebt hat, ist immer eine große Hilfe, sich in die Musik, die ja schlussendlich seine Seelenlandschaft darstellt, einzufühlen. Um meine eigene Interpretation zu finden und zu gestalten, höre ich aber besonders in der Lernphase erst mal keine Aufnahmen des Werkes an.

musikschulwelt: Im Zusammenspiel kommt es doch sicher manchmal zu Meinungsverschiedenheiten über die Interpretation. Wer hat da das letzte Wort?

Bei kleineren Meinungsverschiedenheiten kommt man aufeinander zu. Ich versuche möglichst flexibel zu sein, ohne meine eigene Interpretation aufzugeben. Es kann auch sehr erfrischend sein, eine Phrase mal ganz anders als gewohnt zu spielen.

Lebensmusik einer tragischen Sowjet-Biografie

Mieczyslaw Weinberg: Complete Sonatas and Works (Challenge Classics CC 72567)

Mieczyslaw Weinberg: Complete Sonatas and Works (Challenge Classics CC72567), eingespielt mit dem Pianisten José Gallardo

musikschulwelt: Für die Violinwerke Mieczyslaw Weinbergs (1919-1996) gelten Sie mit Ihren beiden aktuellen CD-Veröffentlichungen zweifellos als Autorität und Experte unserer Tage. Wer war dieser Komponist und was begeistert Sie so an seiner Musik?

Weinbergs Musik ist stark von den Ereignissen seines Lebens geprägt. Als Jude musste er vor den Nazis aus Warschau fliehen, seine Familie kam im KZ um. Er selbst landete über Stationen in Minsk und Taschkent auf Einladung Dmitri Schostakowitschs schlussendlich in Moskau. Sein Leben in der UdSSR war hart: Sein Schwiegervater wurde vom KGB ermordet, er selbst saß eine Zeitlang im Gefängnis; das Regime warf ihm vor, er wolle einen »Judenstaat« errichten. Er wurde vom Regime drangsaliert, viele seiner Werke durften nicht aufgeführt werden und so verdingte er sich auch damit, Musik für Zeichentrickfilme zu schreiben.
All diese Trauer, auch die Wut über die Geschehnisse, hört man in seiner Musik. Es gibt aber auch eine andere Seite, nämlich die wunderschöne, herzergreifende Melodik, die mich immer wieder zutiefst berührt. Seine Melodien haben einen bittersüßen Geschmack, seine Tonsprache ist wirklich einzigartig.

Herzergreifend mit einem bittersüßen Geschmack

Als ich herausfand, dass es noch keine Gesamtaufnahme der Werke für Violine mit Klavier gab, war es mir ein Anliegen, Weinbergs Musik zu der Aufmerksamkeit zu verhelfen, die sie verdient. Herausgekommen ist eine 3-CD-Box (Challenge Classics CC72567), die auch die Weltersteinspielungen der Sonaten Nr. 2 und Nr. 6 sowie die einzig erhältliche seiner Rhapsodie über moldawische Themen enthält. Sein Violinkonzert, das ich mit dem von Benjamin Britten kombiniert aufgenommen habe (Challenge Classics CC72627), ist kompositorisch ein ganz besonders großer Wurf! Schostakowitschs Kommentar bestätigt das nur: »Ich bin sehr beeindruckt von diesem fabelhaften Werk. Und ich wähle meine Worte mit Bedacht!«

musikschulwelt: Als Schauspieler hat man den Lebenstraum, einmal den Oscar zu gewinnen. Als Fußballer will man Weltmeister werden. Gibt es etwas Vergleichbares, was Sie sich im Geheimen für Ihre weitere musikalische Solistenkarriere ersehnen?

Musik lässt sich ja nicht so konkret messen und beurteilen wie ein Fußballspiel, bei dem der Torendstand den Sieger aufzeigt. Aber ja – über eine Auszeichnung einer meiner CD-Aufnahmen mit einem Grammy würde ich mich schon sehr freuen! Eine fast größere Auszeichnung wie einen solchen Preis stellt für mich aber die Zusammenarbeit mit anderen erstklassigen Musikern, Orchestern und Dirigenten dar.

musikschulwelt: Haben Sie ein Motto, das Sie auf Ihrem (musikalischen) Lebensweg begleitet?

In jede Note, die ich spiele, mein ganzes Herz zu legen.

Ein Beitrag aus der O-Ton-Reihe »Auch ich war Musikschüler …« von musikschulwelt.de
Auch die Großen haben einmal klein angefangen. Ob am Instrument oder im Chor: Es sind oft unvergessliche Erinnerungen, die sich damit verbinden. musikschulwelt schaut gemeinsam mit Stars aus und jenseits der Musikszene auf deren ersten Gehversuche in der Musik. Die Fragen stellte Alexander Reischert.

Termine von Aufführungen sind unter www.linusroth.com zu finden.

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