Bunter, als jede Fantasie es auszumalen vermag

Momentaufnahme der UA von »Aqua« (Foto: Holger Schneider)

16-jährige Schüler-Praktikantin erlebt die »Geburt« eines neuen Oratoriums

Als für Thea Lina Stietz in diesem Schuljahr Berufsorientierungswochen anstanden – sie besucht das Mörike-Gymnasium in Stuttgart –, erhielt sie die Möglichkeit zu einem dreiwöchigen Praktikum bei der Internationalen Bachakademie Stuttgart. Dort herrschte gerade Hochbetrieb, denn das Musikfest stand unmittelbar vor der Tür. Und neben zahlreichen Konzerten sollte hier das Oratorium »Aqua« von Gonzalo Grau aus der Taufe gehoben werden …

Als ich eine Woche vor Beginn des Musikfestes mein Praktikum bei der Internationalen Bachakademie Stuttgart begann, herrschte in Stuttgart gerade gefühlte Gartemperatur, was mir die Bedeutung von Wasser auf sehr drastische Weise deutlich machte. Ein perfekter Einstieg in die Materie sozusagen! Das Projekt, das mich in den nächsten Wochen beschäftigen sollte, war die diesjährige Auftragskomposition für das Musikfest. Nach dem Psalmen-Projekt im Jahr 2009, an dem vier Komponisten und eine Komponistin beteiligt waren, und den »Lamentations« von Uri Caine im letzten Jahr ging der Auftrag in diesem Jahr an den Venezolaner Gonzalo Grau, den das diesjährige Musikfest-Thema WASSER zu seinem Oratorium »Aqua« inspirierte, dessen künstlerischen Werdegang ich aus nächster Nähe verfolgen sollte.

Der Komponist Gonzalo Grau (Foto: Holger Schneider)

Erste Annäherung an ein modernes Chorwerk
»Aqua« erzählt vom Wasser auf der ganzen Welt, vom Mangel auf der einen und vom Überfluss auf der anderen Seite, von der Schönheit des Wassers, aber auch von dessen zerstörerischer Kraft. Es ist in fünf Teile gegliedert, die fließend ineinander übergehen. Das Oratorium beginnt mit dem Ursprung des Wassers und seinem weiten Weg in die verschiedenen Flüsse dieser Welt. Es erzählt von ausgetrockneten Flussläufen und von Menschen, die nahe am Verdursten sind. Es schildert den lang ersehnten Regen, der vom Segen schnell zur Katastrophe wird, weil er einfach nicht mehr aufhören will. Das Oratorium endet mit dem Traum aller Flüsse, dem Aufgehen in den Weiten des Ozeans.

Viel mehr wusste ich nicht, als ich mich bereits am dritten Tag meines Praktikums im Zug auf dem Weg nach Berlin wiederfand, wo am selben Abend die Erstaufführung mit Ausschnitten aus »Aqua« stattfinden sollte. Ich sollte – mit einer mir fremden, respektabel schweren Kamera – »mal eben« Fotos machen und den Musikern kluge Fragen stellen!

Foto: Holger Schneider

Obwohl ich natürlich wusste, dass es sich um das Bundesjugendorchester handelt, hatte ich unwillkürlich doch damit gerechnet, dass alle viel älter sein würden als ich. Umso überraschter war ich, als auf der Bühne lauter junge Menschen saßen, die mit mir in die Schule gehen könnten. Kaum zu glauben, dass man als begabter Musiker in dem Alter schon so weit sein kann und mit den berühmtesten Künstlern zusammenarbeiten darf. Herzstillstand!

Erstkontakt mit dem Bundesjugendorchester
Die Orchestermitglieder selbst sahen das durchaus gelassener: Es sei zwar schon immer was Besonderes und natürlich auch eine Riesenchance für das Orchester, sagte mir die Cellistin Nuala McKenna, aber im Grunde gewöhne man sich daran. Und mit María Guinand, die das Orchester für das »Aqua«-Projekt leitete, sei das sowieso kein Problem, weil sie sehr nett sei und so ambitioniert, dass es allen wahnsinnig Spaß macht, auch wenn die Proben mal länger dauern. Tatsächlich war der Umgang zwischen María und den Musikern freundlich-routiniert und geradezu herzlich.

Die Dirigentin María Guinand (Foto: Holger Schneider)

Als ich María Guinand selbst das erste Mal im Foyer begegnete, strahlten mir ihre Herzlichkeit und ihr Charisma förmlich entgegen. Da war sie, die menschliche Sonne! Und jetzt stand sie da oben auf der Bühne des Konzerthauses Berlin vor dem Bundesjugendorchester und begann ihre Probenarbeit mit einem fröhlich-beschwingten Gruß in die Runde.

Natürlich war ich, die ich selbst einigermaßen passabel Geige spiele, sehr gespannt auf die Probenarbeit des deutschen Elite-Jugendorchesters. Und vor lauter Staunen über dieses Niveau, das ich beim besten Willen nicht mit dem unseres Schulorchesters vergleichen konnte (auch wenn wir gar nicht so schlecht sind), kam ich kaum dazu, meine Fotos zu machen. Zu meiner Beruhigung bestätigte sich dann doch die Binsenweisheit, dass niemand auf dieser Welt perfekt ist: Auch ein Bundesjugendorchester verspielt sich mal und verpasst seinen Einsatz.

Am Abend ging alles gut. Das Konzert bot mit den »Aqua-Skizzen« einen ersten hochinteressanten Einstieg in die Musik Gonzalo Graus, auch wenn hier noch kein Chor dabei war. Das Publikum war (nach anfänglichen skeptischen Blicken) doch sehr begeistert, und ich denke, dass ich nicht die Einzige war, die an diesem Abend Lust auf mehr bekam! Natürlich konnte ich nicht mit auf die bevorstehende Konzertreise nach Venezuela und Ecuador, aber wenigstens konnte ich Fragen stellen. Die Kontrabassistin Heike Schäfer hatte zunächst mein Bild des ständig um die ganze Welt reisenden Orchesters richtig zu stellen. Ja, es gäbe schon immer wieder so große Tourneen, aber in der Regel nur alle zwei Jahre. Und sie würden auch mitnichten die ganze Zeit proben; natürlich hätten sie immer etwas Zeit, sich in der Fremde umzuschauen. Das sei schließlich einer der interessantesten Teile einer solchen Reise: andere Menschen in anderen Ländern kennen zu lernen und mit ihnen gemeinsam zu musizieren!

Die Gächinger Kantorei in Aktion (Foto: Holger Schneider)

Trainingslager von Profisängern
Eine Woche später begannen in Stuttgart die Chorproben der Gächinger Kantorei mit María Guinand. Gespannt saß ich in den Proben und verfolgte aufmerksam die Arbeit eines Profichores an einem völlig neuen Stück. Die zumeist spanischen Texte zu »Aqua« stammen von María Fernanda Palacios. Einigermaßen überrascht war ich dann, als es plötzlich in Englisch und Deutsch durch den Probenraum schallte. Nachdem ich noch mal im Libretto nachgelesen hatte, war ich schlauer: Wir waren im zweiten Teil des Oratoriums angelangt, bei der »Anrufung der Flüsse«. In diesem Teil folgt man dem Wasser durch die Länder dieser Welt, während der Chor die Namen einiger größerer Flüsse aufzählt. Und in England wird die Themse tatsächlich mit einem Gedicht von Eliot, in Deutschland der Rhein mit Auszügen von Hölderlin besungen!

Offensichtlich machten die Proben allen großen Spaß, schon allein deshalb, weil es nie langweilig wurde. María Guinand und die Gächinger leisteten bravouröse Arbeit in dieser kurzen Zeit, lernten fremde Rhythmen, Melodien und vor allem Texte. Einigermaßen verzweifelte Zungenbrecher und unterschiedlichste Grimassen als Folge diverser zu erzeugender Geräusche sorgten immer wieder für allgemeine Erheiterung. Am Ende der a cappella-Probentage wurden dann die Bewegungen hinzugefügt, richtige kleine Choreografien für den Chor, die teilweise und vor allem in Verbindung mit den Rhythmen wirklich nicht einfach waren, dafür aber sehr viel hermachten! Da wurden die Hände in Anbetung an die Göttin Yemayá gen Himmel erhoben, Flüsse wurden angedeutet, und mit ausgestreckten Händen fingen die Sänger wie glückliche Kinder die ersten Regentropfen auf, die vom Himmel fielen.

Foto: Holger Schneider

Die Teile fügen sich zusammen
Dann kam die erste Probe zusammen mit dem Bundesjugendorchester. Und plötzlich klang das, was ich glaubte auswendig zu kennen, ganz anders! Auf einmal ergaben sogar Stellen, die zuvor merkwürdig klangen, einen Sinn, fügten sich zu einem Gesamtbild, das einen mitzog in andere Welten, in denen das Wasser regiert. Auch wenn in dieser ersten Tutti-Probe noch einiges drunter und drüber ging, baute sich da vor mir ein so vollkommenes Klanggebilde auf, dass mir fast die Tränen kamen! Während manch ein Bundesjugendorchestermusiker immer wieder schmunzeln musste über die anfänglich noch seltsam anmutenden Bewegungen, die der Chor da vollführte. Doch die Erheiterung wandelte sich schnell wieder in ernsthaftes Staunen ob der Wirkung, die diese choreografischen Elemente erzielten. Sehr beeindruckend war eine Stelle im dritten Teil des Oratoriums, als alle Flüsse ausgetrocknet sind und der Chor vor Durst schwankt und stöhnt, einer sogar hustend zusammenbricht!

Gigantische Wellen und sanfte Bächlein
Langweilig wurden auch diese Tutti-Proben nie, und immer wieder brachte María Guinand ihre Musiker zum Lachen! Ein Großteil diverser technischer Effekte wurde von einem Mädchen an einem Synthesizer erzeugt. Als sie einmal versehentlich zu weit aufdrehte, wurde die Bühne plötzlich von einer gigantischen Welle davongespült, anstatt von einem kleinen, sanften Bächlein durchkreuzt zu werden. Der Kommentar von María Guinand, das Mädchen solle etwas vorsichtiger sein, sonst höre es sich an, als würde sie ihre Dusche voll aufdrehen, heiterte die Stimmung merklich auf! Langsam entwickelte sich »Aqua« und zeigte sich immer wieder von neuen, noch facettenreicheren Seiten.

Ich kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Die Solisten waren wie geboren für ihre Rollen, da sie selbst aus Südamerika stammen und diese Rhythmen und Melodien einfach im Blut haben. Vor allem Iván Gárcia motivierte die Musiker immer wieder zu mehr Lockerheit im Umgang mit Rhythmen und Bewegungen, er selbst schauspielerte so viel wie er sang, tanzte beim »Aufgehen der Flüsse im Meer« sogar eine Art kleinen Freudentanz.

Die Solisten der UA v.l.n.r.: Benedikt Hoppe, Carlos Sánchez Torrealba, Iván Gárcia, Gioconda Cabrera (Foto: Holger Schneider)

Der Tag X
Obwohl der Beethoven-Saal am 3. September 2011 nicht so gut gefüllt war, wie man es einer Musikfest-Erstaufführung gewünscht hätte, wurde das Konzert ein voller Erfolg! Auch hier verwandelte sich anfängliche Skepsis in tosende Begeisterung. Kein Wunder, bei diesem Gesamtkunstwerk: Der Chor in seinen weiten blauen und grünen Umhängen wirkte wie eine riesige Welle, und das Orchester lieferte mit seiner fremdartigen und doch so vertrauten Musik die Flügel, die einen mitten hinein trugen in dieses Land des »Aqua«! Als am Ende der Komponist selbst auf die Bühne kam, zeigten der riesige Beifall und die Leute, die sich voller Begeisterung aus ihren Sitzen erhoben, ganz deutlich: Der Venezolaner Gonzalo Grau hat ihn völlig zu Recht bekommen, den Europäischen Komponistenpreis für sein Oratorium »Aqua« beim Young Euro Classic Festival in Berlin!

 

Diese meine Geschichte, entstanden aus einem vergleichsweise kurzen Praktikum, hat sich einen Platz zwischen
meinen Lieblingsbüchern wirklich verdient. Manchmal ergeben Geschichten des eigenen Lebens eben ein viel bunteres und vielfältigeres Bild, als jede Fantasie es auszumalen vermag. »Aqua« ist eine dieser kleinen Geschichten, und es ist nicht nur meine. Denn Gonzalo Grau hat mit seinem Oratorium eine Musik geschaffen, die in Zukunft immer wieder Menschen entführen wird in scheinbar fremde, exotische Welten, die gar nicht so weit von der unseren entfernt liegen.
Thea Lina Stietz

 

musikschulwelt bedankt sich bei der Autorin und der Internationalen Bachakademie Stuttgart für die Veröffentlichungsrechte.