Über den neuen Trend, erfolgreiche Singprojekte und die Bedeutung traditionellen Liedguts spricht Prof. Hans Bäßler
Er ist Leiter des Master-Studiengangs Musik an der Hochschule Hannover sowie Verfasser grundlegender wissenschaftlicher Beiträge zum Musikunterricht und der Reform der Musiklehrerausbildung. Prof. Hans Bäßler hat mittlerweile Generationen von angehenden Pädagogen begleitet und somit die aktuelle Szene fest im Blick. Über die spürbar gewachsene Begeisterung für das Singen bei Kindern sprach mit ihm Oliver Kopitzke vom SWR.
Welche neuen Ansätze und Initiativen gibt es in Deutschland, die dafür sorgen, dass Singen bei Kindern wieder »cool« ist?
Prof. Bäßler: Da ist als Erstes eine Schulaktion in Niedersachsen zu nennen, die einen unglaublichen Erfolg in diesem Jahr hatte: »Klasse! Wir singen«. Allein in der Region Hannover erreichte sie rund 35.000 Kinder, die mit einer unglaublichen Begeisterung die Lieder lernten und dann zu den Abschlussveranstaltungen auf das Messegelände kamen. Insgesamt wurden in Niedersachsen etwa 135.000 Kinder und Lehrer in einen Begeisterungssturm für das Singen gezogen.
Allein in Niedersachsen 135.000 begeisterte Kinderstimmen
Woraus schließen Sie, dass Kinder heutzutage weniger Singen als noch vor einer Generation?
Prof. Bäßler: Genaue Zahlen dazu gibt es nicht. Allerdings kann man dies aus einer Vielzahl von Beobachtungen schließen. Zum Beispiel bei Besuchen in Grundschulen. Besonders bedrückend sind die Erfahrungen bei Aufnahmeprüfungen an unserer Hochschule: Über ein entsprechendes Liedrepertoire verfügt kaum noch jemand. Und wenn man internationale Jugendtreffs besucht, stellt man sehr schnell fest: Da singen die deutschen Gruppen kaum noch, wohl aber die Skandinavier oder die jungen Menschen aus den baltischen Staaten oder Polen.
Es heißt, Kinder singen gerne. Gibt es dafür eine anthropologische Erklärung?
Prof. Bäßler: Das stimmt. Kinder singen ausgesprochen gern, gerade wenn sie von ganz frühen Jahren an mit den Eltern oder den Geschwistern zusammen singen. Es ist anscheinend dieses »etwas gemeinsam machen«, das ihnen besonders viel Freude macht. Und da das Singen überall möglich ist, beim Spielen, beim Schlafengehen, beim Laufen, gehört es »irgendwie« dazu. Nur: Es muss praktiziert werden. Zunächst lallen die Kinder und ahmen nach, das bringt ein Wohlgefühl, anschließend verfestigt es sich immer mehr zu dem, was man gemeinhin als Singen versteht.
Es entsteht eine neue kommunikative Umgebung
Warum sollten wir das fördern? Worin sehen Sie das gesellschaftliche Interesse am Singen mit Kindern?
Prof. Bäßler: Das Singen ist unter ökonomischen Gesichtspunkten zunächst einmal wertlos. Und genau das braucht unsere durchstrukturierte und auf Sinn hin getrimmte Gesellschaft mehr denn je: Dass man Dinge um ihrer Selbst willen tut, nicht, um damit etwas zu erreichen. Es gehört zum Wesen der Künste, scheinbar keinen eigentlichen Zweck zu haben – außer dass sie den Menschen zu dem machen, was er eigentlich ist: ein Mensch, der frei lebt und frei entscheidet und sich damit eine neue kommunikative Umgebung schafft.
Prof. Bäßler: Das kommt darauf an, wie alt die Kinder sind. Das erste Singen bewegt sich in einem ganz engen Tonraum mit äußerst einfachen Texten, anschließend wird gern zu einer Dur-Moll-tonalen Harmonik gesungen. Wichtig ist, dass die Texte bestimmte Themen reflektieren und zunächst aus einem unmittelbaren Lebenszusammenhang und der ersten Erfahrung stammen. Später lieben Kinder Lieder, die besonders witzig sind: Der »Cowboy-Jim aus Texas« ist bei Grundschulkindern immer noch der Renner.
Stimmt es, dass Kinder keine Opernarien mögen?
Prof. Bäßler: Das kommt darauf an. Wenn ein Kind eine frühe Erfahrung mit Opern gemacht hat, dann ist dies kein Problem. Das kann ich aufgrund der Erfahrungen, die unsere Tochter ab ihrem fünften Lebensjahr gemacht hat, nur bestätigen. Aber ansonsten stimmt es: Der Belcanto-Stil ist dermaßen anders gegenüber dem ganz alltäglichen Singen, dass diese Art des Singens für viele abschreckend wirkt.
Singen muss locker und unverkrampft praktiziert werden
Wovon hängt es ab, dass Kinder Spaß am Singen haben? Welche Tricks empfehlen Sie, um Kinder und Jugendliche wieder an die Tradition des Singens heranzuführen?
Prof. Bäßler: Tricks mag ich gar nicht! Wo der persönliche Rahmen stimmt, wo Lieder keinen Unsinn erzählen, wo sie vielleicht Humor vermitteln, da entsteht die eigentliche Freude am Singen. Das Singen muss locker und unverkrampft in der richtigen Umgebung ausgeführt werden, auf den richtigen Rhythmus und die richtige Tonhöhe ist unbedingt zu achten.
Sind Kinderchöre noch der geeignete Rahmen, um mit Kindern zu singen? Müssen wir junge Menschen nicht vielmehr über die Medien ansprechen, mit denen sie sich beschäftigen? Zum Beispiel im Internet, mit Apps fürs iPhone, mit Wii-Spielen etc.
Prof. Bäßler: Letzteres halte ich für falsch, auch wenn ich selbst die Apps für das iPhone und das iPad nutze. Singen ist immer unmittelbar. Medial ist diese Unmittelbarkeit kaum herzustellen. Entscheidend ist, dass etwas von einem persönlich vermittelt wird, wenn man mit Kindern singt.
Welche Vorzüge sehen Sie in den alten, traditionellen Kinderliedern, ihren Melodien und ihren Texten?
Prof. Bäßler: Zunächst einmal keine Vorteile in einem vordergründigen Sinn. Allerdings bin ich der Meinung, dass der Traditionsfluss nicht abreißen sollte. Darum brauchen wir auch die so genannten alten, in Wirklichkeit aber neuen Lieder. Für Kinder selbst sind die Inhalte zunächst nicht so wichtig. Aber das darf nicht heißen, dass man alle Texte akzeptiert. Und wo die Kinder inhaltlich Schwierigkeiten haben könnten, wie bei dem Vers »… die Rösslein spann an …«, da sollten die Eltern unbedingt helfen, den Kontext besser zu verstehen. Gerade alte Lieder bieten eine Vielfalt andersartiger sozialer Bezüge; die kann man nicht einfach beiseiteschieben.
Was können Liederprojekte, wie es SWR2 gemeinsam mit dem Carus-Verlag (musikschulwelt berichtete) auf die Beine gestellt hat, für das Singen mit Kindern bewirken?
Prof. Bäßler: Das sind die Initiativen, von denen ich glaube, dass sie ganz viel bringen. Wir müssen uns immer wieder deutlich machen, dass wir heute viel mehr als früher medial nicht nur geprägt sind, sondern Vieles an Wissen allein durch die Medien bekommen. Die Kindergärten und die Schulen allein wären überfordert. Es gibt einfach zu wenig Pädagogen, die entsprechend ausgebildet sind.