Von der ländlichen Musikschule an die Dirigentenpulte der Welt

Foto: Catrin Moritz

musikschulwelt  spricht mit Markus Stenz über seine musikalischen Anfänge, die Arbeit mit
Jugendlichen, die Berufsmusikerpraxis und persönliche Visionen

Als Sohn eines Musiklehrers wuchs Markus Stenz in der musikalischen Provinz auf. Es war Leonard Bernstein, der ihn als Jugendlichen via TV inspirierte. Heute zählt der Kölner Generalmusikdirektor zu den weltweit gefragten Orchesterleitern, arbeitet in Übersee u.a. mit dem Chicago Symphony oder dem Los Angeles Philharmonic Orchestra, in Europa z.B. auch mit dem Tonhalle-Orchester Zürich, den Berliner Philharmonikern, dem Concertgebouw-Orchester Amsterdam oder dem Hallé-Orchester Manchester. Doch angefangen hat alles im beschaulichen Bad Neuenahr-Ahrweiler unweit von Bonn …

musikschulwelt: Wie sind Sie als Jugendlicher mit der Musik in Berührung gekommen?

Ich bin in einem Musikerhaushalt in einer Kleinstadt groß geworden. Mein Vater hat damals die Musikschule des Landkreises Ahrweiler gegründet. Ich selber erhielt ausgezeichneten privaten Klavierunterricht bei einem »uralten Drachen«. Die Dame hatte knöcherne Finger und war schon ganz verhutzelt, aber anerkanntermaßen die beste Pädagogin im ganzen Landkreis. Anfangs mussten mich meine Eltern jedes Mal 40 km zu ihr hinfahren. Nach den ersten Klavierstunden habe ich mich zunächst geweigert, dorthin zu gehen. Denn ich fand die alte Dame hässlich, und das sagte ich ihr auch auf den Kopf zu, worauf sie erwiderte: »Da hast Du völlig Recht. Und nun komm rein …« Damit war das Eis gebrochen.

Nach zehn Jahren bei ihr bin ich dann zur Musikschule gewechselt und habe vor meiner Hochschulzeit noch zwei bis drei Jahre Unterricht am Klavier und der Posaune gehabt. Ich machte in der dortigen Big Band mit und im Musikschulorchester habe ich Pauke gespielt.

Foto: William Ellis

musikschulwelt: Wann setzte sich bei Ihnen der Wunsch fest, Dirigent werden zu wollen?

Das muss ich festmachen an dem Wahnsinnsinspirator Leonard Bernstein. Ich werde den öffentlich-rechtlichen Programmen auf ewig dankbar sein, dass sie dessen »Harvard Lectures« ausgestrahlt haben – sechs Vorlesungen, in denen Bernstein die Musikgeschichte so aufgedröselt hat, dass ich es komplett elektrisierend fand. Warum die Musik so ist, wie sie ist, warum die berühmten Stücke so sind, wie sie sind, warum sie berühmt sind. Diese Vorlesungen gehören für mich zu dem Punktgenauesten und Größten, was man einem musikinteressierten Menschen als Leitfaden mitgeben kann.

musikschulwelt: Wie sah denn bei Ihnen damals die Aufnahmeprüfung aus?

Der Schlüsselmoment war ein persönlicher Termin bei Prof. Volker Wangenheim, dem damaligen Dirigierprofessor in Köln. Zu ihm sind mein Vater und ich vorher hingefahren, er sollte sich mich mal »ansehen«. Ich musste dann eine Haydn-Partitur vom Blatt spielen (was ich gar nicht konnte!), und dann hat er eine Sache getan, die ich für eine entscheidende Kompetenz des Dirigenten halte – er testete mein Gehör: »Dreh dich einmal um. Was spiele ich jetzt? « Da stellte sich heraus, dass das, was ich hören konnte, viel versprechend war. Er legte mir nahe, die Aufnahmeprüfung zu machen.

Das Gehör macht den Unterschied

Ich ging dann ohne Umwege direkt als 18-Jähriger in die Dirigierklasse der Kölner Musikhochschule – und das völlig unbedarft, obwohl ich aus einem Musikerhaushalt stammte. Bis ich Dirigieren lernte, hatte ich nur ein einziges klassisches Sinfoniekonzert mit Sir Georg Solti erlebt – und das war’s. Bernstein und seine Art, Musik so unmittelbar zu verstehen, zu verinnerlichen und so plausibel herauslassen zu können, sowohl dirigentisch als auch vermittelnd – er war ja auch noch derjenige, der die »Westside Story« geschrieben hatte –, war der Magnet für mich. Letztlich vollzog sich dies aber durch das Medium Fernsehen.

Foto: Catrin Moritz

musikschulwelt: Ist das Geheimrezept für die Zusammensetzung Ihres Gürzenich-Orchesters vielleicht eine ganz bestimmte Mischung aus Jung und Alt?

Es ist gar kein Geheimrezept, sondern etwas, was man gar nicht ändern könnte. Es ist ein Traditionsorchester, 150 Jahre alt, gewachsener Klangkörper und es wird immer Fluktuation geben. Wenn ich nach einem Jugendorchesterprojekt zurück zum Gürzenich-Orchester komme und sehe dort die ganze Bandbreite vom jungen Wilden bis zum äußerst erfahrenen delikaten Musiker, dann stelle ich regelmäßig fest, dass ich gerade dies sehr schätze. Dieser breit gefächerte Erfahrungsschatz mit Musik ist sehr wertvoll und ich finde, es ist gut für ein Orchester, dass es dieses Austarieren gibt.

Automatische Neubesetzung durch die Jugend

Wo eine Stelle frei wird, wird neu jung besetzt. Es gibt Altersgrenzen für’s Probespiel. Auch jemand aus dem Orchester müsste noch einmal ein neues Probespiel machen für das erste Pult, es wird nicht einfach nachgerückt. Das ist eine klar definierte, herausgehobene solistische Aufgabe im Orchester, die spezielle Anforderungen braucht – und die muss jemand im Probespiel unter Beweis stellen. In den meisten Fällen ist es so, dass jemand Frisches von außen hereinkommt.

musikschulwelt: Wie muss man sich denn die Bewerbung eines neuen Musikers konkret vorstellen?

Es gibt immer mehr Bewerber als die tatsächliche Anzahl der zum Probespiel Eingeladenen. Anhand des Lebenslaufs und der beigefügten Unterlagen wird das Feld zunächst selektiert. Das Probespiel findet vor dem gesamten Orchester statt. Ob mit oder ohne Vorhang, entscheidet sich je nach Bewerbungslage. Wenn es einen Bewerber aus dem Orchester gibt, wird zumindest die erste Runde hinterm Vorhang gemacht. Für den Fall, dass dieser in der ersten Runde weiterkommt, wird dann in der zweiten Runde ohne jeden Vorhang die gesamte künstlerische Persönlichkeit beurteilt. Aber es gibt auch Probespiele, in denen keiner aus dem Orchester vorspielt (und das ist eher häufiger der Fall), da erfolgt von vornherein ein offenes Probespiel vor dem ganzen Orchester in mehreren Runden und einem ganz klar geregelten Abstimmungsprozess.

Markus Stenz dirigierte das Bundesjugendorchester im Januar 2012. (Foto: Peter Adamik)

musikschulwelt: Worin liegt für Sie der besondere Reiz, mit Jugendlichen zu arbeiten, die ja erst noch auf dem Weg zur technischen Perfektion sind?

Stellen Sie sich vor, Sie brennen für eine Sache, Sie sind beseelt – von Musik zum Beispiel. Und Sie haben die Möglichkeit, Ihr inneres Feuer weiterzugeben. Das ist ein ganz tolles Gefühl nicht nur für einen selbst, sondern auch für die Sache. Man erkennt sehr schnell, wer von der Musik angefixt ist und wer nicht. Und wenn es dann Orchester gibt wie das der Rheinischen Musikschule oder die ganz wunderbare Erfahrung mit dem Bundesjugendorchester … da begegne ich jungen Leute, die ihrerseits auf Entdeckungsreise sind, Musik für sich erobern und sich anstecken lassen von diesem Feuer, das sie schon in sich tragen und leben wollen, und die diese tolle Energie haben. Sie haben Recht, es gibt eine Komponente, die jenseits einer technisch perfekten Umsetzung von Musik liegt.

musikschulwelt: Würden Sie einem jungen Menschen den Musikerberuf vorbehaltlos empfehlen?

Musik als Hauptberuf auszuüben, ist in ganz vielen Fällen ein schwieriger Weg. In dem Moment, wo ein junger Musiker ein Probespiel absolviert, hat er ja schon über Jahre – wenn nicht Jahrzehnte – jeden Tag in das Erlernen eines Instruments investiert. Und trotzdem besteht immer wieder die Gefahr, dass entweder das Talent einfach nicht weit genug entwickelt werden kann, dass es in der Konkurrenzsituation nicht hörbar wird oder auch dass man selbst nicht mehr sicher ist, ob es das ist, was man wirklich bis ans Ende seiner Tage machen möchte. Insofern würde ich behaupten, dass unter talentierten jungen Musikern der größere Teil im restlichen Leben etwas anderes macht.

Ein hürdenreicher Weg für junge Persönlichkeiten

Ich habe mit Deutschlands jüngstem Spitzenorchester, dem Bundesjugendorchester, gearbeitet – mit einer annähernden Hundertschaft. Ich habe herausragende Leistungen gehört von Leuten, die mit Sicherheit im Orchester landen, aber es wird auch aus dieser Gruppe nicht jeder Orchestermusiker werden. Es ist ein harter Weg, der hohe Hürden aufweist, viele Anforderungen an die jeweilige junge Persönlichkeit stellt. Wenn die Liebe zur Musik, das Talent, die Bereitschaft, durch Üben sich immer zu verbessern – wenn das alles zusammenkommt, dann wird der junge Musiker seinen Weg machen.

Glück spielt dabei auch eine Rolle: in der richtigen Situation die richtige Entscheidung treffen, der richtige Lehrer, die richtigen Musiker, mit denen man zusammenspielt, die richtige Heranführung, die richtige Inspiration in jenen Zeiten, wenn man hadert, die nächste sich bietende Gelegenheit, der tröstende Applaus – dies alles spielt eine wichtige Rolle.

Vertiefung und Neugierde als Triebfedern

Die aktuelle CD mit Gustav Mahlers Sinfonie Nr. 3 (Oehms Classics OC 648) wurde kürzlich vom »Stereo Magazin« mit dem Stern des Monats ausgezeichnet.

musikschulwelt: Haben Sie eine musikalische Vision, die Sie sich persönlich noch nicht erfüllt haben?

Es ist ja leider fürchterlich. Der Hunger lässt nicht nach. Und selbst wenn man Sachen gemacht hat, etwa Mahlers Achte zu dirigieren, dann denkt man: Irgendwann möchte ich Mahlers Achte noch mal dirigieren usw. Wenn man ein Stück einmal aufgeführt hat, heißt das nicht, dass man es im Umkehrschluss einfach von seiner Liste streicht, sondern es schält sich mit zunehmender Erfahrung ein Kanon an Werken heraus, zu denen man eine besondere Liebe und Affinität verspürt. Und natürlich versuche ich mich immer wieder diesen Partituren zu nähern. Die eine Triebfeder ist dieses »tiefere Eindringen«, die andere die Neugierde. Deshalb fasziniert mich auch die zeitgenössische Musik, das Wissen, wie man heutige Befindlichkeiten in Musik gießt, was den Zeitgenossen so an Klängen einfällt.

Wenn ich konkrete Namen nennen sollte, dann wären das im Bereich der Oper Mozart, Wagner, Strauss, Klassiker der Moderne wie Alban Berg sowie Uraufführungen z.B. von Detlev Glanert. In Sachen Sinfonik bin ich »Mahlerianer« durch und durch, liebe die Musik von Haydn wegen ihrer Frechheit und Kreativität, Mozart wegen seiner Erhabenheit und Spielfreude.

 

Ein Beitrag aus der O-Ton-Reihe »Auch ich war Musikschüler …« von musikschulwelt.de
Auch die Großen haben einmal klein angefangen. Ob am Instrument oder im Chor: Es sind oft unvergessliche Erinnerungen, die sich damit verbinden. musikschulwelt schaut gemeinsam mit Stars aus und jenseits der Musikszene auf deren ersten Gehversuche in der Musik.

Termine von Aufführungen sind unter www.markusstenz.com zu finden.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Bitte lösen Sie diese Aufgabe: * Time limit is exhausted. Please reload CAPTCHA.